Wir – Fotograf Daniel Delang und ich – sind auf dem vierten und letzten Streifzug auf der Route von Hollenbach hinter Augsburg nach Lindau am Bodensee. Der Artemisia Allgäuer Kräutergarten liegt an der Passhöhe, nach der sich das hügelige Voralpenland zur weiten See-Ebene öffnet. Ungewöhnlich, dass hier im eigentlich rauen Süd-Westen Bayerns ein Kräuterhof gedeiht.
Doch als der Gründer Tilman Schlosser Ende der 1990er Jahre die Gelegenheit bekam, Hof und Land um den Lindenbaum in Hopfen bei Stiefenhofen im Westallgäu zu erwerben, ergriff er sie und begann einen tiefgreifenden Transformationsprozess. Als Pionier des Kräuteranbaus im Allgäu gestaltete er nach und nach den früheren Milchviehbetrieb mit den zugehörigen Flächen zu einem vielfältigen Organismus um, indem er eine heimische Kräutergärtnerei aufbaute und sie gleichzeitig verknüpfte: mit ökologischer Landwirtschaft und dem Ziel, Tieren und Pflanzen möglichst viel natürlichen Lebensraum zurückzugeben. Nun ist mit einer Gemeinschaft von Menschen ein weit bekannter Hof entstanden, bei dem die große Allgäuer Kulturlandschaft, ruhige Park-Elemente und lokale Ertragslandwirtschaft miteinander verwoben sind.
Wir sind mit einem seiner Söhne, Kaspar, verabredet, der uns über das Gelände, durch die Gärtnerei, das alte Haus mit Hofladen, Teestube und Kräuter-Konfektionierung sowie Trockenboden führt. Artemisia erntet heutzutage eigene Kräuter und Pflanzen für Gewürzmischungen, Tee, Öle, Salze, Räucherware und Tinkturen. Als Spezialitätengärtnerei mit über 400 Sorten züchtet der Betrieb diese für den eigenen Verbrauch wie als Jungpflanzen für Kundinnen und Kunden. Zudem ernähren Gemüsefelder die Hausgemeinschaft und ein wachsende Schar Kundinnen und Kunden.
Was ist ein Erfolg bei Artemisia?
„Jedes Jahr eine neue Insektenart!“ – so fasst Kaspar Schlosser seine Ziele für die Arbeit mit dem Artemisia Kräutergarten zusammen. Das bedeutet, so erläutert er, dass es ein Erfolg ist, wenn sich jedes Jahr eine neue Art der sensiblen Insekten wieder auf ihrem Gelände ansiedelt. Es bedeutet auch, dass die Natur in ihrer Vielfalt zurückkommt. Dass sich der Boden regeneriert, dass Pflanzen und Tiere Rückzugsorte haben und die Natur nicht verdrängt wird.
„Der Artenreichtum, die Artenvielfalt, der Freiraum für die Natur, der Platz, den die Natur hat, um Natur zu sein, das kenne ich so aus keinem anderen Betrieb“, sagt am Feldrand der Mitarbeiter, der für den Gemüseanbau zuständig ist. „Dass man die Natur nicht nur pflegt, sondern sie auch sein lässt.“ Das Sein-Lassen hat zur Folge, dass zusammen mit bewusster Bepflanzung eine wirkliche Landschaft entsteht, die sich durch vielfältige Strukturelemente auszeichnet und in der wilde Ecken gewünscht sind. Die Vielfalt ist das eine, was die Arbeit bei Artemisia ausmache, so der Mitarbeiter im Garten. Das Team der zusammenarbeitenden Menschen, aber auch die Freiheit, sich einbringen zu können, seien weitere Prägungen. „Es ist natürlich viel Verantwortung, die ich übertragen bekommen habe, für den Gemüsebau und die neuen Hydrolate. Aber das sind im Prinzip meine beiden aktuellen Leidenschaften, und die kann ich jetzt hier verwirklichen. Das ist es, was es hier für mich auf jeden Fall ausmacht.“
Ein Rundgang durch einen Betrieb, der nach Balance sucht
Wir können die eingangs erwähnte Vielfalt bei unserem Rundgang an sehr vielen Stellen entdecken. Zuerst durchstreifen wir die Gärtnerei mit ihren typischen Tontöpfen. „Ja, das ist in etwa so wie die Papiertüte beim Einkaufen. Natürlich wäre es ganz ohne besser, aber besser als Plastik ist es allemal.“ Unter gerade schwer mit Trauben behängten Weinranken stehen die unterschiedlichsten Arten und Sorten von Jungpflanzen. Darunter auch mehrere Sorten Artemisia, also Beifuß-Gewächse, die für die notwendigen Bitterstoffe im Leben sorgen und das Abwehr- und Verdauungssystem trainieren – ein Übungsfeld für den Umgang mit lebenspraktischen Bitterkeiten.
Welche Pflanze mag Kaspar Schlosser am liebsten, hat er eine Leitpflanze? „Bei den Kulturpflanzen weiß ich es gerade nicht. Aber wir haben bei den Topfpflanzen die Braunwurz, die schätze ich wahnsinnig. eigentliche eine sehr unscheinbare Pflanze, die auch wild wächst am Wegesrand. Wenn man aber genau schaut, sind an ihr die unterschiedlichsten Insekten zu finden“, erläutert er. „Manche Pflanzen haben ja eine Art Eins-zu-eins-Beziehung zu bestimmten Insekten. Die Braunwurz ist aber einfach voll mit allem. Fliegen, Bienen, Mücken, Wespen, Hummeln, was da so kreucht und fleucht geht da dran. Und die Blüte ist wunderschön, würde man aber im Vorbeigehen erstmal gar nicht sehen.“ Die Kunst des dienenden Understatements in Pflanzenform.
In der Gärtnerei ist im Frühling die Hochphase, dann sind auch am meisten Menschen bei Artemisia tätig. Wie bei den Jahreszeiten folgt unserem Rundgang nun der Garten, wohin sich auch im Sommer der Arbeitsschwerpunkt verlagert. Hier sehen wir die wachsenden Beete und Äcker in der weitläufigen Anlage mit Bäumen, Wasserflächen und einem großen Spiralbeet, das wohl eines der bekanntesten Artemisia-Kennzeichen ist. Die 2 Hektar große Gartenanlage ist das äußere Herzstück des insgesamt 26,5 Hektar großen Betriebs an seinen zwei Standorten.
Selbst Fotograf Daniel Delang, weit gereister Reportageprofi, wird hier im Allgäuer Westen von einer wohl internationalen Ur-Geste überrascht: So pflückt man also Tee! Mit den bauchigen Erntekörben am Körper laufen drei junge Menschen langsam durch das Cosmea-Feld, trennen die Blüten von Hand ab und legen sie sorgfältig in ihre geflochtenen Gefäße. In der schräg stehenden goldenen Spätsommer-Sonne ein Anblick, den wir wohl nicht so schnell vergessen werden. Geradezu sinnlich fassbar zeigt sich uns die Idee, mit Kräutergarten und Gärtnerei einen Hofladen und Versand zu betreiben und für die Hofgemeinschaft eine Lebensgrundlage zu schaffen. Gleichzeitig gibt die lebendige Anlage des weitläufigen Gartens der Natur und dem Menschen etwas zurück: eine Balance von Nähren und Genährtwerden.
Verantwortungsvolle Landwirtschaft gegenüber Mensch und Hof
Dass der Artemisia Kräutergarten auch eine geistige Komponente hat, klingt in den Gesprächen mit den Menschen vor Ort an und zeigt sich der räumlichen Gestaltung. Bäume spielen zum Beispiel eine wichtige Rolle, sie sind nicht nur eine Gegenmaßnahme für die klimatische Verschlechterung, sie bilden auch Ruheinseln aus und laden mit anderen künstlerischen Elementen auf dem Gelände zu Entschleunigung und Bewusstheit ein: Kunst und Naturwahrnehmung als Möglichkeit, den Geist zu schulen und zu verstehen, was Not tut im Leben, um es besser zu machen.
„Unsere Aufgabe ist, die Erde, wie wir sie übernommen haben, besser zu hinterlassen“, sagt Kaspar, während wir an einem Karottenbeet stehen inmitten von Hecken und Baumgruppen. „Wir müssen wieder lernen, zu verstehen, was die Mutter Erde braucht.“ Nicht umgekehrt, ist der höchste Ertrag aus dem Boden zu ziehen, sondern die Bewirtschaftung soll so erfolgen, dass die Lebewesen unter und über der Erdoberfläche bestmöglich unterstützt werden. „Allein über die Millarden Organismen, die in dieser Handvoll Erde leben, wissen wir noch viel zu wenig. Aber wir wissen, der Boden ist gestresst: erst kommen alle Lebewesen an die Oberfläche, weil durch lange Starkregenperioden das Wasser bis zur Oberkante steht und sie keine Luft kriegen. Dann brennt da die Sonne drauf. Das ist richtig, richtig Stress.“ Statt noch die Oberfläche mit schwerem Gerät zu verdichten, sieht er die unbedingte Notwendigkeit, diese Lebensbereich mitzudenken und aus dem Zusammenspiel größerer und kleinerer Strukturen ökologische Vielfalt und letztlich Stabilität und Lebensfähigkeit herzustellen.
Als heile Welt oder mustergültigen Betrieb sieht er Artemisia nicht, zu viele Kompromisse und nur einer von vielen unter Kolleginnen und Kollegen. Aber er findet doch bei längerem Nachdenken zwei übergeordnete Richtwerte, die er anstrebt: „ Dass ich, egal, was ich mache, meinen Kindern die Wahrheit erzählen kann. Und vielleicht - im Weltmaßstab, denn wir sind ein gemeinsamer Planet - als guter Böser zu gelten?“
Mehrere Strukturebenen wirken zusammen
Wir gehen aus dem Freigelände in den alten Hof, wo auch die herbstlichen Erntekomponenten Hofladen und Teestube untergebracht sind, und sprechen über die Betriebsstruktur. Der Hopfener Landwirtschaftsbetrieb setzt auf mehrere Standbeine und hohe Biodiversität. „Es ist immer ein schlechtes Jahr“, konstatiert Kaspar Schlosser. „Für irgendeine Kultur ist es immer ein schlechtes Jahr. Das ist so. Die Kunst ist, die Arten und Sorten so zu kombinieren, dass Einbußen abgefangen werden können.“
Bei Artemisia sind es verschiedene Pflanzkulturen in großen und kleinen Strukturen, ein bewusster Aufbau des Bodens und natürlich verschiedene alte Tierrassen, wie eine Herde Allgäuer Braunvieh, eine Schar Ostfriesischer Milch-Schafe und mehrere Schwärme Carnica-Bienen, die keinen Ertrag abwerfen müssen.
Sie sorgen mit einer agilen Gemeinschaft von Menschen für einen insgesamt ausgewogenen Hof-Organismus. Je nach Jahr und je nach der aktuellen Zusammensetzung von Mitarbeitenden um die Kernbetreiber, entstehen immer neue Facetten des Artemisia Kräutergartens. Dabei gilt auch hier das Miteinander großer und kleiner Strukturen: „Die Verantwortungsebene ist genauso wichtig wie diejenige, die den Kaffee kocht.“ Die Unternehmens-Werte sind klar und schlüssig.
Unternehmenswerte bewahren und entwickeln
Entsprechend stimmig werden wir im Konfektionier-Raum, dem winterlichen Herzstück, von einer langjährigen Mitarbeiterin sehr positiv begrüßt. Es sei schön, zu sehen, was sich über die Jahre entwickelt hat, und welche Weiterentwicklung nun die zweite Generation, also die Gründer-Söhne Jakob und Kaspar Schlosser mit ihren Familien und dem ganzen Artemisia-Team, ausbilden könne. Dass sich der Betrieb professionalisiert habe, z.B. beim Versand und beim Online-Shop, sei wichtig und richtig. „Es ist viel Gutes auf den Weg gebracht worden.“ Nur kurz halten ihre erfahrenen Hände für ein kleines Foto-Set inne, dann ziehen wir uns zurück, um das emsige Schaffen nicht weiter aufzuhalten.
Wir sind ja noch nicht im Allerheiligsten gewesen. Unsere Hoftour führt nach dem Hofladen mit der Ernte, der Teestube und der Werkstatt noch hinauf in den Trockenboden, wo auf netzmaschenbespannten Holzrahmen und in dicken Bündeln am Deckenbalken die Kräuter trocknen. „Urproduktion“, sagt Kaspar, und greift in die Calendulablüten. Natürlich ein tolles Fotomotiv für Fotograf Daniel, doch ist es auch eine schlüssige Geste am Ende unseres Rundgangs: hier ist einer mit Leib und Seele dem Ort, seinen Pflanzen und Ernte-Erträgen verbunden.
Doch es ist kein reiner Idealismus. Denn auch unternehmerische Fragen müssen für einen gesunden Betrieb als Prozesse geklärt sein, damit Zeit für das Sprechen über Wichtiges bleibt. Ein Punkt, der mir aus unternehmerischer Sicht, lange zu denken gibt: Wie hält man die eigenen Qualitätsansprüche aufrecht in den Wirtschafts- und Sozialbeziehungen, in denen man steckt, ohne am eigenen Soll zu scheitern? „Am Ende müssen alle, die hier beteiligt sind, Mittagessen auf dem Tisch gehabt haben. Die Kundinnen und Kunden müssen sich unsere Produkte leisten können. Und wir müssen uns unsere Arbeit leisten können.“ Eine Herausforderung für wohl viele ganzheitlich wirtschaftende Betriebe. „Wir sind weit davon entfernt, dass wir alle, die hier arbeiten, die Qualität an Produkten konsumieren können, die wir selber produzieren. Das würde ich als Fernziel ausgeben. Aber wir leben davon.“ Und zwar mit gut über 30 Personen.
Von reichhaltigen Biotopen und wertvollen Wegrändern
Mit Blick vom Haus über den Westhang mit seiner wieder hergestellten Kulturlandschaft, strukturiert und abwechslungsreich ist, kommen wir am Ende unseres Besuchs auf die Gewohnheiten des Sehens zu sprechen. Beliebte Bilder des Allgäus sind die einer Abfolge von Wiesen, hügelig oder flach, oft mit (hornloser) Kuh oder freiem Bergblick. Doch ist dies gewissermaßen Regio-Kitsch, denn das oberflächliche Klischee der ausgeräumten, flächig-grünen Landschaft wird als schön vermittelt, obwohl sie unnatürlich ist: Eine solche Landschaft ist kaum belebt. Man kann Verständnis haben, warum sie ist, wie sie ist. Und gemeinsam überlegen, wo wir uns hin entwickeln können.
Denn ganz anders eine Landschaft voller Strukturelemente, Hecken, Gewässer, Raine und anderes: „Da ist immer was los. Und da entstehen Nischen, und das ist das, was wir brauchen: Landschaft.“ Auch Kaspar und Daniel sind in ein Gespräch versunken, es ist von einer wertschätzenden, offenen Grundhaltung durchzogen. Die Reisezeit drängt, doch die Antwort auf die Frage, was wir von hier mitnehmen sollen, hören wir in Ruhe an. Kaspar: „Überall dort, wo Übergänge sind, da tobt das Leben! Da ist Vielfalt zuhause. Das ist vielleicht das, was man hier vorzeigen kann, die vielen unterschiedlichen Standbeine“ – von Natur.
Ein kleiner Kreis schließt sich, als mir in der Nachbereitung und weiterführenden Recherche zu diesem Streifzug-Artikel Kaspar Schlossers Lieblingspflanze, die Braunwurz, wiederbegegnet. Auch bei den Kollegen von der Bayerischen Landesanstalt Wald und Forstwirtschaft steht sie hoch im Kurs: „Allein das Beispiel der Knotigen Braunwurz und der mit ihr assoziierten und vergesellschafteten Tierarten zeigt, wie wichtig es ist, auch solche Kleinbiotope am Wegrand in Wäldern zu erhalten.“ (Olaf Schmidt: Artenreiche Braunwurz. LWF aktuell 1/2020)
Ein in lebendigen Verbindungen stehendes Biotop am Wegrand – ein gutes Bild für unseren fünfzehnten Streifzug-Stopp, den wir in Stiefenhofen-Hopfen beim Artemisia Kräutergarten eingelegt haben. Nun folgt der letzte Teil unseres Road-Trips über die Bergausläufer hinunter zur lichten Weite des schwäbischen Meeres. Dort wollen wir zwei erfolgreiche Unternehmerinnen besuchen, die mit Weitblick und Können das Lindauer Bodensee-Ufer bereichern.
Kontakt:
Artemisia Allgäuer Kräutergarten
Hopfen 29, 88167 Stiefenhofen im Allgäu
Tel. Büro: 08386-960510
Tel. Teestube: 08386-961530
info@artemisia.de, https://artemisia.de
Öffnungszeiten: Mi-Fr 12-18 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr
Dieser Artikel ist Teil der HeimatUnternehmen-Reportageserie Streifzüge durch Schwaben, die hier insgesamt zu finden sind.
Texte: Veronika Heilmanneder, Fotos: Daniel Delang
Im Artemisia Kräutergarten können Gärtnerei, Gemüsekeller und Garten immer besucht werden, auch etwa von vorbeiradelnden Langstrecken-Radlern auf dem Bodensee-Königssee-Radweg. Dieser verbindet unseren vierten und unseren dritten „Streifzug durch Schwaben“ von Lindau über Stiefenhofen durch die wasserreichen Bergwaldgegenden des Argen- oder Konstanzer Ach-Tals zum Großen Alpsee und Rettenberg am Grünten. Hügelig, mit großartigen Ausblicken wie Schluchten, birgt diese Etappe einen ganz eigenen Reiz, der am besten in langsamem Tempo genossen wird.