"Versorgt am Ort" liefert innovative Lösung
Ferien auf dem Land sind etwas Feines. Dorfidylle, Ruhe und Natur. Alltag auf dem Land ist auch fein – und oft eine Herausforderung. Werner Palancares kann ein Lied davon singen. Nachdem er zunächst 2003 ein Ferienhaus in Willmars erworben hatte, verschlug es ihn 2011 aus Frankfurt endgültig in die Rhön. Ohne die (Sonnen-)Brille des Urlaubers konnte er sehen, was es bedeutet, in einer ländlichen Region den Alltag zu managen. Zunächst über das Thema Lebensmittel – Werner Palancares betrieb sogar für eine Weile den örtlichen Dorfladen – beschäftigte sich der HeimatUnternehmer zunehmend mit der Nahversorgung. Und woran es hier ebenfalls oft krankt, ist die medizinische Betreuung.
Fakt ist: Bayernweit fehlen hunderte Hausärzte, insbesondere auf dem Land. Dazu kommt die Überalterung – viele Praxen werden von engagierten Ärzten am Laufen gehalten, die bereits deutlich über 60 Jahre alt oder sogar über das Rentenalter hinaus für ihre Patienten da sind. Nachfolger sind schwer zu finden – obwohl der Freistaat hier seit Jahren mit zahlreichen Maßnahmen gegensteuert. Von der Landarztprämie über Stipendien für angehende Mediziner bis hin zu Förderprogrammen für Kommunen. Neben sichtbaren Erfolgen gibt es Regionen, in denen die Engpässe fortbestehen. Das bedeutet: Viele Patienten müssen länger auf Termine und Behandlung warten und teils auch sehr weite Wege in Kauf nehmen. Die verbliebenen Ärzte wiederum müssen noch mehr leisten, um die Versorgung aufrecht zu erhalten.
Werner Palancares, mit seiner beruflichen Erfahrung aus der Healthcare Marktforschung und dem Wunsch, etwas für seine Wahlheimat zu tun, begab sich intensiv auf die Suche nach praktikablen Lösungen. Tatkräftigen Support hatte der dabei von Beginn an von der Initiative HeimatUnternehmen, die in der Rhön seit vielen Jahren ein sehr lebendiges und innovatives Netzwerk unterhält.
Eine einzigartige Gemeinschaftsleistung
„Alle versuchen, Ärzte aufs Land zu holen. Wir wollten stattdessen versuchen, unsere Landärzte zu entlasten“, erklärt Werner Palancares die Herangehensweise. Deshalb gab es zum Auftakt einen Runden Tisch mit den Hausärzten aus der Region im Willmarer Rathaus, der schließlich zu der Idee führte, die Arbeit der Medizinischen Fachangestellten weiterzuentwickeln. Denn als Versorgungsassistenten (VERAH) oder Nichtärztliche Praxisassistenten (NäPa) können sie Hausärzte wirksam entlasten. Angelehnt an die „Dorfschwestern“, die es im benachbarten Thüringen bis zur Wende gab, sollten bestimmte medizinische Leistungen an kompetente Fachkräfte delegiert werden, die die Versorgung wohnortnah in zentral gelegenen Räumen übernehmen und dadurch den Arztpraxen aufwändige Hausbesuche ersparen. Getreu dem namensgebenden Motto: „Versorgt am Ort“.
Dass im Mai 2023 tatsächlich die ersten Räumlichkeiten für das Pilotprojekt eröffnet werden konnten, war das Ergebnis einer einzigartigen Gemeinschaftsleistung. Der damalige Gesundheitsminister Klaus Holetschek überreichte den symbolischen Scheck über die Fördersumme von rund 500.000 Euro, die vom Freistaat – zusätzlich zu einer Anschubfinanzierung von 50.000 Euro – zur Verfügung gestellt wurde, persönlich an die Mitglieder der „Streutalallianz“: ein schlagkräftiger Zusammenschluss aus HeimatUnternehmen, Ärzten und Bürgermeistern.
Damit startete in Stockheim das Modell, das mittlerweile in acht Räumen der Region erfolgreich umgesetzt wird. In engem Austausch mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten findet zu festen Zeiten in zentralen Räumen Gesundheitsversorgung statt, es wird beispielsweise Blutdruck gemessen, Wunden versorgt oder die richtige Einnahme von Medikamenten geprüft.
Vorausgegangen waren mehr als 4.000 E-Mails sowie Gespräche mit Fachkräften, Ärzten, Pflegepersonal, Krankenkassen, Politikern und Patienten. Der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) war insbesondere wichtig, dass der enge räumliche Bezug zu den Hausarztpraxen immer gegeben ist. Gleichzeitig ermöglicht die mit der Digitalisierung einhergehende Telemedizin jederzeit eine Abstimmung zwischen Ärzten, Fachkräften vor Ort und Patienten.
Spürbare Verbesserung der Lebensqualität
Der großen Hartnäckigkeit der Akteure geschuldet war der Glücksfall, dass die Universität Bayreuth mit Dr. Reiner Hofmann vom Medizincampus Oberfranken zur Streutalallianz stieß. Mit großem Engagement wurde das Konzept zusammen mit den regionalen Akteuren und in Abstimmung mit den überregionalen Institutionen optimiert und implementiert sowie fortlaufend evaluiert.
Erste Zwischenergebnisse können sich sehen lassen: Sie zeigen, dass es signifikante Verbesserungen bei der Effizienz der Versorgung und der Zufriedenheit der Patienten gibt. Die Lebensqualität im Streutal hat sich messbar erhöht, für ältere oder chronisch kranke Patienten ist insbesondere der Erhalt ihrer Eigenständigkeit ein großer Gewinn. Und nicht zuletzt sind auch die medizinischen Fachkräfte glücklich – für sie ist „VERSORGT am ORT“ eine Möglichkeit, ihren Beruf weiterhin heimatnah ausüben zu können. Denn wenn Arztpraxen schließen, müssen sich die Mitarbeitenden häufig nach neuen Aufgaben umsehen. Durch das Pilotprojekt können sie in ihren Regionen bleiben und sogar ihre Patienten weiter betreuen.
„Wir als Projektbeteiligte brennen für unsere Versorgungsräume – weil sie einige der vulnerabelsten Gruppen fokussieren und die Lebensumstände auf dem Land verbessern.“
Für die elf Bürgermeister der Streutal-Gemeinden steht fest: „VERSORGT am ORT ist eine praxistaugliche und leicht umsetzbare, tragfähige und allseits geschätzte Lösung.“ Das Modell sollte nach Ansicht der Gemeinde-Chefs möglichst dauerhaft strukturell verankert werden. „VaO“ sei ein Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements, das mit langem Atem entstanden und durch enormen Einsatz zum Erfolg getragen worden sei. „Unsere Bürgerinnen und Bürger profitieren tagtäglich davon.“
Ziel ist es nun, das Projekt behutsam weiterzuentwickeln, in Abstimmung mit der KVB, nach deren Auffassung „insbesondere solche regionalen Ansätze zur Versorgungsstabilisierung und -verbesserung aus ambulanter Sicht zu begrüßen“ sind. Und die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach sieht einen weiteren positiven Effekt: So werde dadurch in der Praxis gezeigt, „an welchen bundesrechtlichen Stellschrauben noch zu drehen ist, um regionale, individuelle und lösungsorientierte Konzepte und mehr Gestaltungsspielraum zu ermöglichen“.
So wird das VaO-Konzept nicht nur mit gleichbleibenden Leistungen an einem anderen Ort konzipiert und evaluiert, es wird darüber hinaus auf Bundesebene die Einbindung in die Regelversorgung geprüft. Parallel dazu wird in Kooperation mit KVB und Kassen eine Ausweitung der Leistungen und der Patientenschaft erwogen.
„HeimatUnternehmen haben das Potential, das Leben auf dem Land zu verändern“
„VERSORGT am ORT “ ist das bislang größte und weitreichendste Projekt, das die HeimatUnternehmen Bayerische Rhön umgesetzt haben. Für Werner Palancares kam dabei nicht zuletzt eine besondere Eigenschaft der HeimatUnternehmer zum Tragen: „Dran bleiben und nicht lockerlassen!“ „Wir sind mächtig stolz, dass wir so weit gekommen sind“, sagt er. „Wir haben wirklich viel bewegt. Die HeimatUnternehmen haben das Potential, das Leben auf dem Land zu verändern.“
„VERSORGT am ORT ist ein absolutes Erfolgsprojekt, das auf ganz Deutschland übertragbar ist“, sagt HeimatEntwickler Felix Schmidl. „Wir sind guten Mutes, dass das Modell Zukunft hat.“ Zwischenzeitlich gab´s sogar eine Auszeichnung: Einen KONKRET-Preis für innovative Versorgung der Lilly Deutschland Stiftung. Die Stiftung fördert „herausragende Ansätze“, ihr Leitbild lautet „Gesundheit weiterdenken“. Und genau das haben die HeimatUnternehmen zusammen mit ihren Mitstreitern gemacht: Weitergedacht – und dadurch etwas Wesentliches in ihrer Region zum Besseren gewendet.
„Das Projekt ist eine Innovation für die medizinische Versorgung.“ Universität Bayreuth
Zur Sache: Das Projekt „VERSORGT am ORT “ wurde initiiert von den HeimatUnternehmen Bayerische Rhön und mit Expertise der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) und des Bayerischen Hausärzteverbands konzipiert, wissenschaftlich begleitet von der Universität Bayreuth und dem Medizincampus Oberfranken. Die Fördermittel des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit, Pflege und Prävention fließen gezielt in die Weiterentwicklung der Versorgung durch Delegation ärztlicher Leistungen. Unterstützt wird das innovative Modell in hohem Maß durch die Streutalallianz, außerdem durch die AOK Bayern, die Siemens Betriebskrankenkasse und das Zentrum für Telemedizin Bad Kissingen. Derzeit wird eine kostenneutrale Verlängerung beim STMGP um ein Jahr geplant und ein zweites Jahr mit einem geringeren Stellenumfang, außerdem ein Innovationsfonds-Antrag für ein Folgeprojekt ab 01/27.